Verfahrensrecht: Berufung auf unzutreffende LSt-Bescheinigung im Einspruchsverfahren (BFH)
Hat der Steuerpflichtige dem Finanzamt den für die Besteuerung maßgeblichen Sachverhalt im Veranlagungsverfahren vollständig offengelegt, handelt er nicht arglistig und bedient sich auch nicht sonstiger unlauterer Mittel, wenn er sich im Einspruchsverfahren weiterhin auf Angaben in der Lohnsteuerbescheinigung bezieht, denen nach Auffassung des Finanzamt eine unzutreffende rechtliche Würdigung des Arbeitgebers zugrunde liegt (BFH, Urteil v. 8.7.2015 - VI R 51/14; veröffentlicht am 16.9.2015).
Hintergrund: Nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO darf ein Steuerbescheid geändert werden, soweit er durch unlautere Mittel, wie arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt worden ist. Unter arglistiger Täuschung i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO ist die bewusste und vorsätzliche Irreführung zu verstehen, wie jedes vorsätzliche Verschweigen oder Vortäuschen von Tatsachen, durch das die Willensbildung der Behörde unzulässig beeinflusst wird. Für Arglist reicht bereits das Bewusstsein aus, wahrheitswidrige Angaben zu machen. Nicht erforderlich ist dagegen die Absicht, damit das Finanzamt zu einer Entscheidung zu veranlassen. Ein Mitverschulden der Finanzbehörde ist unerheblich, insbesondere der Umstand, dass es die Unrichtigkeit hätte durchschauen können.
Sachverhalt: Fraglich war im Streitfall, ob sich ein Steuerpflichtiger unlauterer Mittel i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO bedient, indem er sich zur Begründung seines Einspruchs gegen einen Steuerbescheid, von dem er weiß, dass er rechtmäßig ist, erneut auf den Inhalt einer Urkunde (hier: elektronische Lohnsteuerbescheinigung) beruft, obwohl er weiß, dass dieser Inhalt falsch ist und der falschen Lohnsteuerbescheinigung unzutreffende lohnsteuerrechtliche Schlussfolgerungen zu Grunde liegen, die der Arbeitgeber aus einem Lebenssachverhalt (hier: Auflösung eines Arbeitsvertrags) gezogen hat.
Hierzu führt der BFH weiter aus:
- Der Einkommensteuerbescheid durfte im Streitfall nicht nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c AO geändert werden. Eine arglistige Täuschung liegt im Streitfall nicht vor. In der (erneuten) Bezugnahme auf die Angaben in der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist keine Irreführung über Tatsachen oder das Bewusstsein, wahrheitswidrige Angaben zu machen, zu sehen.
- Nachdem der Sachverhalt dem Finanzamt bereits vollständig offengelegt war, haben die Kläger hier dem Finanzamt lediglich eine andere rechtliche Würdigung hinsichtlich der lohnsteuerlichen Behandlung der Einzahlung in die Direktversicherung mitgeteilt.
- Der schlichte Vortrag einer anderen Rechtsauffassung im Rahmen des Einspruchsverfahrens ist jedoch nicht "arglistig" oder in sonstiger Weise "unlauter". Zudem entfaltet die Lohnsteuerbescheinigung lediglich einen Beweiswert dahingehend, wie der Lohnsteuerabzug tatsächlich stattgefunden hat und gerade nicht darüber, wie er hätte durchgeführt werden müssen, so dass auch aus diesem Grund durch die Bezugnahme auf die Lohnsteuerbescheinigung keine "unrichtigen (tatsächlichen) Angaben" gemacht wurden.
- Eine etwaige Hoffnung der Kläger, das Finanzamt werde sich ohne eine weitere Sachprüfung ihrer Rechtsauffassung anschließen, ist keine arglistige Täuschung.
Quelle: NWB Datenbank
Anmerkung: Eine Änderung des Steuerbescheides wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO schied im Streitfall aus, da dem Finanzamt bereits bei Erlass des Steuerbescheids sämtliche für die Besteuerung maßgeblichen Tatsachen bekannt waren. Tatsachen waren hier, dass die Klägerin einen Auflösungsvertrag geschlossen hatte, dass die Klägerin eine Abfindungssumme erhielt und dass von dieser Abfindungssumme einen Teilbetrag in eine Direktversicherung einbezahlt wurde. Tatsache war des Weiteren, dass in der Lohnsteuerbescheinigung bei der Berechnung des Bruttoarbeitslohns die Einzahlung in die Direktversicherung als Abzugsposten berücksichtigt wurde. Keine Tatsache war dagegen, dass das Finanzamt nach erneuter Prüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Einzahlung in die Direktversicherung mit der Entschädigung und nicht mit dem Bruttoarbeitslohn zu verrechnen ist. Das Finanzamt ging nunmehr davon aus, dass die Einzahlung in die Direktversicherung nach § 3 Nr. 63 EStG steuerfrei und statt vom Bruttoarbeitslohn von der Entschädigungssumme in abzuziehen war. Diese Beurteilung ist das Ergebnis einer Subsumtion des § 3 Nr. 63 EStG und einer Auslegung des Abfindungsvertrags und nicht Folge neuer, nachträglich bekannt gewordener Tatsachen.